Schon von Osten kommend, erhoben sich die Berge wie eine Fata Morgana aus der Ebene. Diesmal laufe ich von Norden ein, das Wetter ist bestens und die Sicht ungetrübt. Auch in Alberta verfügen fast alle Nationalparks über Orte innerhalb dieser Schutzzone. Der kleine Ort Waterton Lakes im gleichnamigen Nationalpark gefällt mir auf Anhieb. Das alt ehrwürdige Prince of Wales Hotel thront auf einem Berg mit der besten rundum Sicht auf den See und den wunderbaren ihn einrahmenden Bergen, ein Postkarten Kitsch Motiv, einfach wunderschön.

Meine Ziele sind klar, laufen, bis der Arzt kommt!

Zum Eingewöhnen, nehme ich mir den Crypt Lake Trail vor. Dieser beginnt auf der anderen Seite des Sees und man lässt sich die zehn Minuten Überfahrt mit zwanzig Dollar entlohnen. Für die neunzehn Kilometer hin und zurück hat man sechs Stunden Zeit bis das Boot einen wieder abholt. Der Weg führt stetig bergauf an den für die Rockies typischen Steilwänden vorbei und nachdem man eine Leiter und einen Tunnel sowie eine mit Drahtseil gesicherte Steilwand überwunden hat, steht man vor dem herrlichen, natürlich von Steilwänden umschlossenen Crypt Lake. Wir haben Anfang September und das Wetter ist ein Sommertraum, fünfundzwanzig Grad, jeden Tag.

Ich laufe den kurzen, sehr beliebten Bear Hump Trail und genieße die wunderbare Rundumsicht über den Ort und die Berge.

Am nächsten Tag packe ich den großen Rucksack, hole mir das Backcountry Permit, pro Nacht für das Campieren auf den vorher festzulegenden Zeltplätzen neun Dollar achtzig, da kann man nicht meckern, höre mir die einzuhaltenden Regeln an und ab geht es.

Erstes Ziel ist der Zeltplatz mit vier Plätzen am Alderson Lake, den man über den Carthew Alderson Trail erreicht, hier bleibe, nachdem die Tageswanderer abgezogen sind, nur noch ich übrig. Der See und die Umgebung sind natürlich ein Traum und von den obligatorischen tollen senkrecht abfallenden Steilwänden umgeben. Nach langer Zeit stelle ich mal wieder das Zelt auf. Die Sonne ist, Steilwände sei Dank, früh verschwunden. Es sind Vorkehrungen zu treffen für die Nacht, befindet man sich doch in Bären Land. Es ist nicht nur Bären Land sondern Grizzly Land, außerdem ist Herbst und somit sind die Bären auf Beeren Suche. Schon auf dem Weg hier her lief ich durch Hüfthohe Himbeer Sträucher, sehr kleine Beeren aber extrem süß und lecker.

Alle Lebensmittel, Zahnpasta, Creme, die Ranger empfehlen sogar verschwitzte Klamotten, von müffelnden Wanderschuhen haben sie nichts gesagt, werden verpackt und an einem langen Seil befestigt, welches man dann über einen geschätzte vier Meter hohen Galgen befördern muss, um das Ganze nach oben außer Bären Reichweite zu ziehen.

Der Galgen ist zusätzlich an den Pfosten mit Blechen versehen, um Kleinnager vom Verspeisen der Trekking Nahrung abzuhalten.

Schwarzbären können sehr gut klettern, halten sich aber eher in niedereren Lagen auf, wogegen Grizzlys meist höher anzutreffen sind und diese beiden Arten sich somit normalerweise nicht in die Quere kommen.

Mir kommt heute Nacht auch keiner in die Quere, ich schlafe hervorragend und starte am nächsten Morgen früh, um den Pass auf ca. zweitausenddreihundert Meter zu erreichen.

Der weitere Aufstieg ist traumhaft schön. Friedlich, plätschernde glasklare Bäche an denen man die Trinkflasche füllen kann, einsam und landschaftlich fantastisch.

Auf den Anblick, der mich auf dem Pass erwartet, bin ich allerdings nicht vorbereitet. Dreihundert sechzig Grad Rundumsicht das es einem den Atem verschlägt, die ganzen Berge des angrenzenden Glacier Nationalpark in Montana liegen zum greifen nah gegenüber. Hellblaue Gletscherseen darunter. Das ist XXL Kino vom Besten was die Welt zu bieten hat und ich sitze hier erst mal eine Stunde in Shirt und Short, so warm ist es dort oben noch, und genieße diesen traumhaften Anblick.

Ich bin genug in den europäischen Alpen rum gestreift um sagen zu können, eine Klasse für sich, aber das sind die Rockies mit ihrem dunkleren Gestein und den senkrecht abfallenden teils Klotzartigen Bergen definitiv auch.

Ich muss mich los reißen, der Weg an diesem Tag ist noch lang. Es geht Abwärts und ich tauche wieder in Wald und bald auch auf einen kaum noch erkennbaren Pfad ein. Hier laufen nur wenig Leute und gepflegt wird er auch nicht mehr, es geht über oder unter umgestürzte Bäume und ich muss mich konzentrieren den Weg nicht zu verlieren. Irgendwann weist ein Schild darauf hin, das ich nun die Grenze überschritten habe und im US Bundesstaat Montana bin. Der exakt frei gehackte Grenzstreifen bestätigt dies. Hauptsache der ist gepflegt. Nun latsche ich also in den USA ganz ohne Passformalitäten, auch hier spart man sich die Instandhaltung. Mir ist es unheimlich, der Wald ist dicht und unübersichtlich, ich streife wieder durch Himbeersträucher, entdecke Bärenkacke und einen verdächtigen Fußabdruck. Die Bärenglöckchen, die Wanderer sich gern anhängen um die Tiere auf sich aufmerksam zu machen damit die rechtzeitig verduften können, waren im ganzen Kaff ausverkauft, mein uraltes, nur noch halb volles Mini Pfefferspray erscheint mir auf einmal völlig lächerlich. Um auf mich hin zu weisen, knalle ich so laut es geht die Alu Wanderstöcke aufeinander, anstrengend aber ewig vor mich hin reden oder singen geht schon gar nicht, ich brauch die Puste. Ich hoffe jetzt mal, dass die Herrschaften alle irgendwo ihr wohl verdientes Mittags Stündchen genießen, bevor es wieder ans Beeren sammeln geht, Paranoia lass nach, wahrscheinlich ist in fünfzig Kilometer Umkreis gar keiner.

Nach drei Stunden wird das Gelände wieder übersichtlicher, ich atme auf und könnte mir selbst eine schmieren wegen meiner Schwäche, weiß aber auch aus Erfahrung, dass es ein total anderes Gefühl ist, wenn man allein in der Wildnis ist, zu Zweit fühlt man sich einfach sicherer, reine Kopfsache.

Ich erreiche am späten Nachmittag wieder den Waterton Lake und damit ist mein Alleingang an diesem Tag beendet. Zwei von den drei Campplätzen sind bereits belegt und ich lerne die Brüder aus dem nahen Lethbridge kennen, die mit Kajak inklusive ihrem tollem Malamuth unterwegs sind.

Der Hund sitzt, natürlich mit Schwimmweste, vorn in einem der Kajaks und liebt es. Außerdem beansprucht er sein eigenes Zelt. Er mag einfach nicht draußen schlafen, sagen die Beiden, am zu dünnen Fell wird es garantiert nicht liegen und wir haben hier immer noch fünfundzwanzig Grad, verwöhntes Weichei aber wunderschön. Die Brüder verlegen am Abend ihre beiden Zelte auf den kleinen Steg am See, komische Sache aber ich sag denen sicher nicht ,was sie dürfen und was nicht.

Früh am Morgen höre ich Motorengeräusch und ahne, wer da kommt. Als ich zehn Minuten später mit meinem Tee und Energieriegel in der Hand ans Ufer latsche, sehe ich die Ranger im Boot und die Brüder in eine Diskussion verstrickt. Die Wortfetzen die ich auffange genügen um zu wissen, dass dies eine sehr teure Nacht für sie war. Eine Stunde vergeht und Diskussion mit den am längeren Hebel sitzenden Amis ist nicht wirklich möglich. Folgende Übertretungen haben sie sich geleistet: 125,- Dollar für Camping außerhalb des ausgewiesenen Platzes, 85.- Dollar für Feuer machen am Strand und damit außerhalb der ausgewiesenen Feuerstelle plus 75,- Dollar, da leider grad der Hund nicht angeleint war. Immerhin können sie mit Kreditkarte bezahlen. Wären sie zehn Meter weiter nach links gerückt, wäre nichts passiert, weil das schon kanadische Seite ist und die Amis da nix zu melden bzw. zu kassieren haben. Sie nehmen es gelassen. „Wir haben in all den Jahren die Regeln so oft gebrochen, dass uns dies nun nicht viel ausmacht“.

Ich kann sie irgendwo verstehen, es ist ihr Revier vor der Haustür und nur weil hier so viele Touris rum rennen, den Park fast zu Tode lieben und einige davon Mist bauen was ihm auf Dauer schadet, müssen sie darunter leiden. Andererseits machen die meisten Regeln die man befolgen muss, nicht darf, Sinn und sind nicht schwer einzuhalten. „Früher konnten wir hier machen was wir wollten“, ja, die gute alte Zeit, definitiv aus und vorbei. Der Rest des Weges am See entlang ist schnell gemacht. Ich organisiere mich einen Tag neu, treffe zwischendurch auf nette Holländer mit der ersten richtigen Verwandtschaft von Wally, nur ein Jahr jünger und etwas mehr im Gelb Ton gehalten, genieße das faule rum sitzen auf meinem Stammplatz am See und hole mir die nächsten Backcountry Permits.

Diesmal nehme ich mir die Gegend ein Stück weiter westlich vor und laufe zum Lone Lake. Auf dem Weg dorthin gerate ich in einen heftigen Hagelschauer mit Donnergrollen. Alles, nur bitte kein Gewitter, davor habe ich ungeschützt richtig Angst. Zum Glück verzieht es sich und ich bin hier mal wieder Mutterseelenallein. Das Ufer des von Steilwänden umgebenen Lone Lake ist voller Holz und ich beschließe an diesem kühlen Abend, dort aufzuräumen und endlich mal ein richtig großes Feuer zu machen, was auch auf Anhieb gelingt, also nichts verlernt.

Die Nacht ist friedlich und frisch, früh am nächsten Morgen geht es weiter in Richtung Twin Lakes. Ein wunderschöner Weg, einsam und für mich allein. Ich habe aufgerüstet, der gut sortierte Outdoorladen im Örtchen verkaufte mir ein riesen Bärenspray welches sogar schon Eisbären in Churchill in die Flucht geschlagen haben soll, dies hängt nun griffbereit am Rucksack, gut für die Psyche. Nach den beiden Seen folgt der Abstieg zum Snoeshoe Trail, hier unten wollte ich eigentlich übernachten, doch es ist erst zwölf Uhr Mittags und ich beschließe in Anbetracht der schlechten Wettervorhersage für den nächsten Tag weiter zu marschieren um quasi zwei Etappen auf eine zu verkürzen.

Also wieder richtig heftig Bergauf hecheln bis ich über der Baumgrenze stehe. Ich folge der Wasserscheide und der Parkgrenze direkt auf einem Grad. Diese Route wird nicht großartig propagiert, gilt aber unter Kennern als eine der schönsten in den Rockies. Zu Recht, wie ich feststellen darf, als ich endlich mal oben bin. Auch hier ein absolut grandioser Rundumblick, die Verlängerung dessen, was ich hoch oben weiter östlich genießen durfte. Ich schaue hinunter in ein herrliches Tal welches schon zu Britisch Columbia gehört, sehe, wie auch schon auf dem anderen Trail Bergziegen, diese hier vollführen atemberaubende Klettereien am senkrechten Hang.

Ich kann mich mal wieder nicht satt sehen, Tage, die mit Geld nicht zu bezahlen sind, die blauen, perfekten, die mit dreimal X im Kalender an die man sich sein Leben lang erinnert.

Einige Kilometer geht es auf dem Grad entlang, zum Glück habe ich genau zugehört als mir die Rangerin beschrieb, wo ich absteigen muss, erst dann, wenn ich den Goat Lake tief unter mir sehe und keine Minute früher. Ich verweile nochmal eine halbe Stunde hoch über dem See und muss mich dann zwingen, endlich abzusteigen. Hier sollte eigentlich für heute endgültig Schluss sein. Ich koche schnell ein paar Nudeln und rechne mir aus, dass ich es grad noch vor Dunkelheit zum Wagen schaffen könnte, immer den Wetterbericht mit der schlechten Vorhersage im Kopf. Also, Zähne zusammen beißen und nochmal zweieinhalb Kilometer heftiger Abstieg bevor ich wieder auf den Snoeshoe Trail stoße, die letzten viereinhalb Kilometer laufe ich grinsend und wie im Trance im herrlichen Abendlicht auf wunderbar ebenem Gelände. Der Parkplatz ist leer, ich schmeiße den Rucksack ins Auto, kippe noch ein Bierchen und schlafe nach siebenundzwanzig Kilometern und etlichen Höhenmetern allein an diesem Tag doch recht gut.

Überraschung am Morgen, der erste Schnee liegt auf den Bergen, den 17. September haben wir heute. Das Wetter ist also in der Nacht tatsächlich komplett umgeschlagen, da oben möchte ich jetzt nicht im Zelt liegen, alles richtig gemacht.

Ich kenne den um ein vielfaches größeren US Teil des Parks, der fantastisch ist, doch die kleine kanadische Seite steht ihm in nichts nach. Das Wetter war ein Traum bis fast zum letzten Tag und ich erwische auch noch die kleine in einer Umzäunung lebende Bisonherde.

Nach zehn Tagen verabschiede ich mich widerwillig mit Blick von meinem Übernachtungsplatz außerhalb des Parks auf die weiß gepuderten Berge.